Es ist jetzt ca. 4 Jahre her, ich hatte mich gerade auf eine Führungsposition beworben. Im letzten Auswahlgespräch fragte ich, ob ich mit einer Mentorin oder einem Mentor arbeiten könnte – vorbereitend zu der Position. Ich will einen guten Start hinlegen, sagte ich. Dazu sind mir die Leute im Team zu wichtig, als dass ich gleich danebenhaue. Und ich kenne das Unternehmen noch nicht. Auch hier gelingt bestimmt ein besserer Start, wenn ich mich mit jemanden dazu austauschen kann.
Der Personalchef sah mich sehr verwundert hat. Führen sollte doch intuitiv gehen, meinte er. Er verstehe nicht so richtig, wozu ich denn dazu eine/n Sparring-Partner*in bräuchte?
Die Stelle bekam ich nicht. Es wurde an meiner Stelle ein Mann eingestellt. Ob ich die Stelle nicht bekam, weil ich nach Mentoring fragte, weiß ich nicht. Doch die Aussage, ich müsse das doch intuitiv können, also eine Führungskraft sein, hat mich nachdenklich gemacht. Als wäre es eine Schwäche, sich jemanden an die Seite zu holen, die oder der einen begleitet.
Doch was macht eine Mentorin oder Mentor eigentlich?
Bei Wikipedia findet man folgende Definition dazu:
„Tätigkeit einer erfahrenen Person (Mentor/in), die ihr fachliches Wissen und ihre Erfahrungen an eine unerfahrene Person (Mentee) weitergibt. Ziel ist die Unterstützung bei der beruflichen und persönlichen Entwicklung. Im Gegensatz zum Coaching ist der Mentor üblicherweise nicht für diese Tätigkeit ausgebildet.“
Wikipedia
Ich fand damals nichts Verwerfliches an meiner Frage, nach Unterstützung und Begleitung im Rahmen einer Tätigkeit als Führungskraft zu fragen. Und heute, nachdem ich mit so vielen Menschen, insbesondere mit Frauen darüber gesprochen habe, weiß ich, dass sich fast alle Menschen eine Begleitung wünschen, wenn sie eine Führungsposition einnehmen.
Als ein Zeichen von Schwäche empfinde weder ich noch die Frauen, mit denen ich im Austausch bin, ein Mentoring. Denn der Wunsch danach zeigt doch, dass man sich der eigenen Verantwortung bewusst ist.
Normalerweise kennen wir Mentoring so, dass Menschen, die älter und lebenserfahrener als man selbst ist, Mentorin oder Mentor sind. Jung lernt von Alt.
Doch heutzutage hält das sogenannte Reverse Mentorin Einzug in die Unternehmen.
Das umgekehrte Mentoring. Nicht mehr die älteren, erfahrenen Führungskräfte begleiten die jüngeren Kolleg*innen, sondern die jüngeren Menschen sind Mentorin oder Mentor für die älteren Führungskräfte oder Mitarbeitende.
Und was genau soll man denn von den Jungen lernen, könnte man sich nun fragen? Was können die Jungen besser als die Alten?
Das ist ganz einfach:
Beim Reverse Mentoring wird auf den Dialog zwischen den Generationen gesetzt. Die Jüngeren helfen den Älteren, zum Beispiel in Bezug auf Social Media oder anderen neuen Technologien. Durch den Wechsel der Perspektive und den umgekehrten Transfer von Wissen werden Vorurteile abgebaut.
Die Themen dabei können völlig unterschiedlich sein:
- Medienkompetenz
- Anwendung von Software
- Bedienung von Apps
- Neue Recruiting-Methoden
- Social Media Marketing
- Online-Vertrieb
- Verhalten als Führungskraft
- Entwicklung von Führungskräften
- Motivation von Mitarbeitenden
- Personalentwicklungsmaßnehmen
- Workflow
Es handelt sich also in allererster Linie um die Themen, bei denen die jüngeren Menschen mehr wissen oder wichtiges Wissen beitragen können. Das Ziel ist, dieses Wissen auf Management-Ebene zu erfahren und dadurch die Unternehmenskultur, die Arbeitsstrukturen und die Arbeitsorganisation zu erneuern und zukunftsfähig zu machen.
Zusammenfassend kann man also sagen, dass Reverse Mentoring sehr förderlich ist, um…
- … einen Dialograum für unterschiedliche Generationen zu schaffen und die älteren Führungskräfte mit der Lebens- und Arbeitsrealität der nächsten Generationen vertraut zu machen.
- …das Unternehmen als Ganzes zukunftsfit zu machen, so dass neue Herausforderungen frühzeitig angegangen werden können und neue Geschäftsmodelle entwickelt werden können.
Ein positiver Nebeneffekt ist, dass sich durch diese Methode die Unternehmenskultur verändern wird. Denn das gegenseitige Verständnis wächst und verbessert sich kontinuierlich durch den regelmäßigen Austausch zwischen Jung und Alt und zwischen den unterschiedlichen Hierarchien.
Auch die jungen Mentorinnen und Mentoren profitieren natürlich davon. Zum einen erfahren sie viel Wertschätzung, weil ihre Meinung und Expertise für das Unternehmen wichtig ist. Und sie erweitern ihre fachlichen Kenntnisse, bauen ihr eigenes Netzwerk auf und werden sichtbar im eigenen Unternehmen. Das kann für die eigene Karriere sehr hilfreich sein.
(Quelle: https://karrierebibel.de/reverse-mentoring/)
Mich fasziniert die Idee des Reverse Mentorings sehr, denn auch ich will den Anschluss an die jüngere Generation und ihre Sicht auf die Welt nicht verlieren. Deshalb habe ich mich nach einer jüngeren Mentorin aus einer anderen Branche umgeschaut. Nach einem Aufruf bei LinkedIn(https://www.linkedin.com/feed/update/urn:li:activity:6888388436487639040/) meldeten sich bei mir über achtzig Menschen. Die Auswahl fiel mir überhaupt nicht leicht. Doch nachdem ich alle Bewerbungen in Ruhe durchgelesen habe und mir eine Liste erstellt habe, konnte ich eine Entscheidung treffen.
In Kürze starten ich gemeinsam mit einer Frau, die 14 Jahre jünger ist als ich meine erste Reverse Mentoring Reise.
Und diese Frage möchte ich mit ihr besprechen.
- Wie nimmst du unsere Gesellschaft und Arbeitswelt war?
- Wie siehst du deine Rolle in unserer Gesellschaft?
- Welchen Einfluss magst du auf die Arbeitswelt nehmen?
- Wie erlebst du das Standing von Frauen in der heutigen Zeit?
- Was erhoffst du dir vom Leben?
- Wie gehst du mit Social Media um?
- Was hat dich im Leben schon durcheinander geschüttelt und wie bist du damit umgegangen?
Ich freue mich sehr auf meine neue Mentorin und auf alle Dialoge, die wir führen werden.
Lilian Gehrke-Vetterkind / Februar 2022